Die Wucht der Bilder

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Fotos Andrea Gjestvang  

 

Michael Pfister ist Bildredakteur. Er wählt aus, was wir zu sehen bekommen und verteidigt seine Foto-Auswahl nicht selten gegen die Wünsche von Chefredaktion und Art Director. Pfister beauftragt Fotografen weltweit und beschäftigt sich dabei seit vielen Jahren mit Krisenberichterstattung und Ethik. Er beobachtet die weltweite Diskussion über die Macht der Bilder, gerade, wenn es um Katastrophen, Kriege und menschliche Tragödien geht. Im Interview mit Petra Tabeling vom Dart Centre Deutschland spricht er über seinen ethischen Anspruch und die Realität in den Redaktionen.

 

Petra Tabeling: Herr Pfister, man könnte ja annehmen, dass Katastrophen relativ leicht zu fotografieren sind, denn man muss einfach nur draufhalten bei dem, was passiert. Es brennt, es gibt Trümmer, verletzte oder weinende Menschen. Ist das so einfach?

Michael Pfister: Nein. Gerade in solchen Fällen kann man die Fotos erfahrener Fotojournalisten von einfachen „Schnappschüssen“ meist gut unterscheiden. Müssen z.B. Leichen wirklich abgelichtet werden oder reicht es, wenn man Opfer aus Distanz erahnen kann? Welche symbolischen Elemente können ein Foto vielschichtiger machen? Ich persönlich möchte eine angemessene Berichterstattung und bevorzuge Nuancen. Dazu gehört nicht, dass man ein Bild vom brennenden Wrack mit Leichen zeigt. Wir wissen doch gar nicht, wann und wo es unsere Leser sehen und wie stark es sie dann schockiert. Außerdem geht es dabei auch um die Angehörigen der Verunglückten.

Erfahrene Fotojournalisten wählen nicht die erstbeste und einfachste Position für ein Foto, sondern versuchen zum Beispiel, die Situation vom Großen zum Kleinen zu verorten. Sie achten auf Details wie Gesten, Körperhaltung und Blicke, Spuren, Umgebung – sie versuchen die Atmosphäre visuell stimmig einzufangen. Im besten Falle vereint ein spannend aufgebautes Bild verschiedene Aspekte: z.B. im Vordergrund eine Rettungskraft, die einen Gegenstand aufhebt, und im Hintergrund ein Teil des abgestürzten Flugzeuges.

Junge Fotografen können von ihren erfahrenen Kollegen viel lernen, wenn sie deren Arbeiten gezielt studieren. Und für mich als Bildredakteur in der Redaktion ist es wichtig, jedes Foto einordnen und nach Möglichkeit auch verifizieren zu können. Dazu gehören die fünf journalistischen W’s in der Bildlegende: Wer, Wo, Was, Wann und Warum.

Haben Sie Beispiele für Fotos, die Sie nicht gedruckt haben?

Ja, ich habe zum Beispiel häufig schon nicht journalistische, gestellte und inszenierte Fotos aussortiert. Außerdem entscheide ich mich gegen Fotos, die mir Fotografen und Nachrichtenagenturen zugesendet haben, die ich jedoch nicht auf ihren Wahrheitsgehalt verifizieren konnte.

Wenn ich Fotoreportagen beauftrage, achte ich darauf, dass Fotografen und Reporter auch zusammen passen. Zum Beispiel haben wir zum Grubenunglück in der Türkei im Mai 2014 einen bestimmten Reporter hingeschickt, aber der gewünschte Fotograf konnte nicht und ich sollte jemand anderen suchen. Ich hatte zwei erfahrene Fotografen, von denen ich weiß, dass sie sensibel vorgehen. Da ich aber den Reporter kannte, wusste ich, dass er sie ggf. dazu drängen würde, Dinge zu tun, die sie nicht unterstützen würden. Ein lokaler Fotograf vor Ort hat dann Bilder gemacht von einer Frau, die ihren Mann verloren hat. Bei dieser Reportage wurden verschiedene Regeln gebrochen: Es war z.B. sehr deutlich, dass die Frau traumatisiert war, und man hätte sie nicht vor die Kamera zerren sollen. Ich wusste vorher schon, dass diese Reportage nur Leid verursachen würde, konnte mich in der Redaktion aber nicht durchsetzen. Immerhin konnte ich den beiden mir bekannten Fotografen diesen Konflikt ersparen.

Wie gut kann man im journalistischen Tagesgeschäft auf solche Dinge Rücksicht nehmen?

Ich denke, dass das eher bei Wochen- oder Monatszeitschriften möglich ist. Bei täglich erscheinenden Medien werden diese Fragen nicht gestellt, da geht es um das schnelle Entscheiden und Handeln. Über die Konsequenzen wird nicht nachgedacht, denn morgen gibt es schon das nächste Thema, die nächste Ausgabe.

Sensibilität braucht Zeit und man muss sie entwickeln. Als ich vor zehn Jahren angefangen habe, mich mit Krisenberichterstattung auseinanderzusetzen, habe ich gemerkt, dass es Journalisten gibt, die sich seit 30 oder 40 Jahren mit diesem Thema beschäftigen. Und nur weil sie stetig dazu lernen, sind sie in der Lage, diesen Job zu machen. Ich habe sehr viel mit verschiedenen Fotografen zusammengearbeitet und es war immer eine Vertrauensbasis da. Ich versuche meistens, mittel- und langfristig nachhaltige Kontakte zu Fotografen aufzubauen und sie für schwierige Themen zu sensibilisieren. Dann kann man auch Krisen gemeinsam meistern, weil man eine gemeinsame Haltung entwickelt hat und eine gemeinsame Sprache spricht. Aber man muss sehr viel Ausdauer mitbringen, um solche Kontakte zu entwickeln.

Ein Beispiel für das Dilemma im aktuellen Tagesgeschäft war der Flugzeugabsturz über der Ukraine im Juli 2014. Der Fotograf Jerome Sessini  hat als einer der ersten Fotos vom Unglücksort gemacht, und u.a. tote Körper noch im Stuhl sitzend oder die Tagebucheinträge eines Kalenders gezeigt. Das löste viele Diskussionen aus - wo sind aus Ihrer Sicht die Grenzen der multimedialen Darstellung?

Ich saß an dem Tag in der Redaktion. Neben den offiziellen Agenturen sah ich auch die Webseite des US-Nachrichtenmagazins TIME, die in ihrem Fotoblog http://lightbox.time.com herausragende Fotos sehr früh publizieren. Diese Fotos haben sich stark abgehoben von dem, was die Agenturfotografen produziert haben. Und ich wusste intuitiv, dass sie über den Moment hinaus wichtig sein werden - positiv oder negativ.

Sessini, mit dem ich zu diesem Zeitpunkt auch schon zusammen gearbeitet hatte, hat die Bilder beinahe poetisch umgesetzt. Er hat auch bewusst Dinge ausgelassen. Er hat seine Bilder so komponiert, hat die Tragödie so abgebildet, dass seine Bilder auch in Zukunft noch aussagekräftiger sein werden als das Foto, dass an diesem Tag in jeder Zeitung erschienen ist. Ich konnte seine Bilder nicht bekommen und habe mich dann an dem Tag für ein anderes Bild entschieden, für einen leeren Flugzeugsessel im Kornfeld. Dies war für mich auch sehr berührend. Solche symbolhaften Fotos haben es aber sehr schwer, in die Zeitung zu kommen, denn die Redakteure funktionieren häufig nach dem gleichen Muster: Sie wollen das Wrack sehen, möglichst persönliche Dinge von Menschen, die dort umgekommen sind, und sie wollen ein möglichst aktuelles Fotos sehen, den letzten Stand der Dinge.

Aktualität und Aufmerksamkeit sind die wichtigsten Kriterien, nicht Einordnung und Information – und dieser Trend nimmt zu. Die Medien kommen durch Internet, Facebook-Bilder und Youtube-Videos von Menschen vor Ort immer mehr in Zugzwang, aber sie reflektieren diese Quellen nicht und ordnen sie nicht ein. Es wird einfach raus gesendet, einfach gedruckt. Und das ist schade.

Als moralischen Tiefpunkt empfinde ich die Bildergalerien von Opfern, die immer wieder gedruckt werden, teilweise mit Fotos aus persönlichen Quellen, teilweise aus Facebook.

Diese Fotogalerien sind sehr umstritten, werden aber immer wieder gemacht. Wie kann man sich als Bildredakteur dieser Entwicklung entgegen stellen? 

Der Zeitdruck und die Komplexität hat zugenommen, auch in einer Print-Redaktion. Die Leser können heutzutage alle Fotos konsumieren, ob die Zeitung sie nun druckt oder nicht. Ich bin der Ansicht, dass die Zeitungsredaktionen die Aufgabe eines Filters haben sollten. Eine Zeitung sollte bewusst Fotos drucken oder sich bewusst dagegen entscheiden.

Das Berufsbild des Fotoredakteurs hat sich stark verändert. Die Herausforderung ist, alles Material, alle Fotos, die man auf legalem Wege zugestellt bekommt oder beschaffen kann, durchzuschauen, auszuwählen und zu präsentieren. Durch das Internet kommt aber eine ganz neue Dimension dazu: Das „Monitoring“. Wir müssen permanent schauen, was machen die anderen Medien mit riesigen Newsrooms, die Daily Mail, der Guardian oder die New York Times? Das ist eine in den vergangenen Jahren neu hinzugekommene Zusatzaufgabe, wird aber vorausgesetzt. Denn wenn man das nicht macht, kommt ein anderer Redakteur mit einem Bild aus dem Internet und dieses hat plötzlich Vorrang vor den eigenen Quellen. Dann muss man aufwändig suchen, aus welcher Quelle dieses Bild stammt. Die eigenen Qualitätsstandards werden immer neu durcheinander gewirbelt, weil immer mehr Material auf einen einprasselt und für die Bewertung kaum Zeit bleibt. Da siegt dann oft die Aktualität über die Qualität.

Leider erhöhen auch die Nachrichtenagenturen diesen Druck, indem sie auch grenzüberschreitende Bilder auf den Markt werfen, einfach, „weil sie da sind“ und manche Redaktionen sie haben wollen. Und dann sind da noch die Reporter vor Ort, die die Nachrichtenagenturen und deren professionelle Filter überholen, indem sie ihre Bilder direkt ins Internet stellen. Da müssen stärkere Standards entwickelt werden.

Wie haben Sie diese Standards für sich selbst entwickelt?

Neben der Reflexion meiner eigenen Arbeit ist es für mich sehr hilfreich gewesen, Beispiele für „best practice“ anzuschauen. Mich hat z.B. auf den Webseiten des Dart Centers ein Interview mit einer ukrainischen Fotojournalistin sehr beeindruckt. Sie hat aus sehr persönlicher Perspektive geschildert, wie sie die Ereignisse auf dem Maidanplatz erlebt hat. Und das hat mir Mut gemacht, weil ich gesehen habe, wie komplex Ihre Entscheidungen vor Ort waren. Es ist nicht nur für unsere Leser, sondern auch für uns im kollegialen Austausch wichtig, die Arbeitsbedingungen und Zusammenhänge hinter den Geschichten zu verstehen, diese sichtbar zu machen und sie mitzuteilen.

Kommen wir auf eines ihrer eigenen Projekte: Sie haben zusammen mit der norwegischen Fotojournalistin Andrea Gjestvang ein Fotoprojekt über die Überlebenden des Utoya Massakers gemacht – „One day in history“. Entstanden sind sehr persönliche und nahezu ästhetische Bilder der überlebenden Jugendlichen. Was hat Sie an diesem Projekt am meisten interessiert?

Andrea war an diesem Freitag in Norwegen und hat als Fotoredakteurin gearbeitet. Sie wurde selbst evakuiert, weil eine Bombe in ihrem Redaktionsgebäude hoch ging. So wurde sie selbst ein Teil dieser Berichterstattung. Sie erzählte mir, dass sie nicht einfach so zum Alltag übergehen könne, sondern sich weiter intensiv damit beschäftigen wollte. Ich habe gespürt, dass es für sie als Fotografin sehr wichtig war. Wir wollten ein zeitloses Dokument schaffen. Sie hat mit einer Mittelformatkamera diese Porträts gemacht, in der höchstmöglichen Qualität, und nicht mit einem schnellen Auslöser. Die Stimmung und ohne äußere Hilfsmittel zu arbeiten, waren wichtig. Ich wusste, dass Andrea mit der gebotenen Vorsicht an die Jugendlichen herantreten würde. Die entstandenen Porträts sind nicht voyeuristisch, sondern ein Zeitdokument, wie es ihnen jetzt und hier geht. Zuerst waren sie die „Überlebenden“ des Ereignisses, dann waren sie „traumatisiert“ und als sie nicht mehr jeden Tag in der Zeitung standen, waren sie wieder ganz einfach Jugendliche in Norwegen. Andrea hat sie an ihren Lieblingsorten fotografiert: Sie waren zuhause in ihrem Zimmer, weil sie nicht mehr rausgehen wollten, oder sie waren im Wald, oder an einem anderen Ort, der ihnen viel bedeutet. Es ging darum, ihre Geschichte in ihren eigenen Worten aufzuschreiben und dazu ein Foto zu machen. Die Texte wurden von Andrea zusammengefasst, die Überlebenden haben sie aber selber geschrieben.

Vielen Dank für das Interview.

 

Der Link zum Foto-Projekt „One day in history“ von Andrea Gjestvang:

http://andreagjestvang.com/photography-2/one-day-in-history/