Warum Fortbildungen notwendig sind

Kristina Maroldt schreibt in der ZEIT über die Wirksamkeit von entsprechenden Fortbildungen (Bsp. Winnenden) und das Dart Center: "Den Umgang mit Leid und Tod haben Journalisten nicht gelernt. Redaktionen schicken ihre Reporter nun zum Trauma-Training".

Konfrontation mit dem Grauen
 

von Kristina Maroldt

Den Umgang mit Leid und Tod haben Journalisten nicht gelernt. Redaktionen schicken ihre Reporter nun zum Trauma-Training

(Quelle: Die ZEIT, vom 5.11.2009, Nr. 46, mit freundlicher Genehmigung)

Als es am 11. März 2009 bei Gisela Mayer klingelt, ist ihre Tochter, Referendarin an der Albertville-Realschule in Winnenden, noch keine zwölf Stunden tot. »Sie sind doch vom Amoklauf betroffen«, sagt der Reporter vor der Tür. »Ich will ein Interview machen. Haben Sie Fotos?« - »Das war wie ein Überfall«, erinnert sich Mayer. »Der stellte sich nicht mal vor. Und das in einem Moment, in dem für mich ohnehin alle Normen außer Kraft gesetzt waren, ich mich schutzlos fühlte wie nie.« - »Geht nicht«, stammelt sie damals nur. Und schlägt die Tür zu.

Auch für Thomas Stephan ist der 11. März ein Tag jenseits der Norm. Gewöhnlich berichtet der SWR-Reporter über Politik, Wirtschaft, Kultur. In Winnenden kommt er in ein Katastrophengebiet, in dem auch für ihn anfangs Lebensgefahr besteht: Tim K. ist noch auf freiem Fuß. Polizei auf den Straßen, Scharfschützen auf dem Schuldach - und am Handy drängeln die Kollegen von der Tagesschau: »Wir brauchen Bilder!« Stephan spürt, wie er schwankt, zwischen Reporterpflicht und dem Wunsch, die Trauernden nicht zu stören. Als er sieht, wie eine Angehörige weinend über die Straße läuft, wählte er den Kompromiss: Er filmt die Frau - aus der Ferne. »Sie anzusprechen, hätte ich unanständig gefunden.«

Ein Reporter brach in Tränen aus und war nicht mehr einsatzbereit

Wie soll man sich Menschen nähern, die gerade Schreckliches erlebt haben? Darf man das überhaupt? Wie verändert die Konfrontation mit Leid und Tod die eigene Psyche? Feuerwehrleute, Sanitäter oder Polizisten tauschen sich regelmäßig über solche Fragen aus - in der Ausbildung, bei Supervisionen. In deutschen Redaktionen ist das Thema bislang wenig populär. Dabei hat kaum eine Berufsgruppe so häufig mit traumatischen Ereignissen zu tun wie Journalisten - selbst wenn sie nicht aus Kriegsgebieten berichten. Unfälle, Gewaltverbrechen, Naturkatastrophen gibt es auch hier. Reporter und Fotografen sind dann, neben Polizei und Rettungskräften, meist als Erste vor Ort, fassen das Entsetzen in Worte und Bilder. Die Umstände, unter denen die Berichte entstehen, scheinen dabei mancher Chefredaktion erschreckend egal zu sein. Hauptsache, die Lieferung erfolgt schnell. Und: Die Blut- und Tränenmenge reicht aus, um zwischen Krimiserien und Actionfilmen, fingerdicken Schlagzeilen und halbmetergroßen Aufmacherfotos beim Zuschauer oder Leser überhaupt noch für Nervenkitzel zu sorgen.

Nicht selten gerät die Berichterstattung dann zum Desaster. Winnenden war so ein Fall. Jede kleinste Gefühlsregung an der Gedenkstelle wurde in Nahaufnahme gefilmt, die Häuser der Angehörigen wurden tagelang belagert, Opferfotos ohne Genehmigung der Familien veröffentlicht. 47 Beschwerden gingen beim Presserat ein. Zugleich ging manchem Reporter das Ereignis selbst so nahe, dass er regelrecht krank wurde. Ein Kollege von Stephan erhielt, just als die Särge der erschossenen Kinder aus der Schule getragen wurden, einen Anruf vom eigenen Sohn. Er brach in Tränen aus, bekam Magenkrämpfe, war nicht mehr einsatzfähig. »Wir müssen etwas unternehmen«, beschloss damals Uschi Strautmann, Abteilungsleiterin Information beim SWR. Sie bat die Therapeutin Fee Rojas, ihrem Team bei der Verarbeitung des Erlebten zu helfen. Rojas, eine ehemalige Journalistin, beschäftigt sich seit 2005 mit Trauma und Journalismus und veranstaltet für den WDR und die ARD/ZDF-Medienakademie Seminare und Konferenzen. Zwei Wochen nach dem Amoklauf kam sie ins Funkhaus - zum Trauma-Training.

»Reporter, die so was brauchen, haben den falschen Beruf«, munkelte damals mancher Kollege. Dabei sind solche Kurse andernorts längst Usus. Aufgeschreckt durch Ereignisse wie das Oklahoma-Attentat oder das Massaker von Columbine, fanden in den USA schon in den 1990ern Trauma-Trainings an Journalistenschulen statt. 1999 gründete der Reporter Bruce Shapiro, selbst Opfer eines Amokläufers, mit Psychologen das Dart Center for Journalism & Trauma. Das Ziel: die Unterstützung und Schulung von Journalisten im Umgang mit traumatisierten Opfern und eigenen Traumata. Heute ist das Netzwerk Teil der Columbia University in New York, es bietet Handbücher und Trainings, vergibt Preise und Stipendien. Einer der bekanntesten »Kunden« ist die BBC, sie lässt ihre Chefredakteure von Dart-Trainern schulen. Seit 2007 gibt es auch eine deutsche Sektion, koordiniert von der Journalistin Petra Tabeling.

Wann darf man sich den Zeugen eines Amoklaufs überhaupt nähern?

Mit ihr arbeitet Fee Rojas eng zusammen. Das Motto der Dart-Gründer, »Do not harm« - Richte keinen Schaden an, weder bei deinen Interviewpartnern noch bei dir selbst, hält auch sie für die wichtigste Regel bei der Trauma-Berichterstattung. Doch wann werden Grenzen überschritten? Im Workshop lässt Fee Rojas die Reporter erst mal berichten, wie sie die Tage in Winnenden erlebt haben: Welche Szenen verstörten - und warum? Was half dabei, die Bilder wieder aus dem Kopf zu bekommen? »Nicht jede Situation, für die wir keine Bewältigungsstrategie haben, führt zu einer Traumatisierung«, erklärt Rojas. Selbst wer in den ersten Tagen schreckhafter sei, Gerüche vom Tatort in der Nase habe, leide nicht automatisch an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. »Da müssen die Symptome schon nach sechs bis acht Wochen noch spürbar sein. Sie zu kennen ist aber wichtig.«

Ebenso komplex sind die Signale des Gegenübers: Wie soll man reagieren, wenn der Interviewpartner zu weinen anfängt? Will er alleine sein? Oder würde ein Gesprächsabbruch verstören? Zu welchem Zeitpunkt darf man sich Zeugen eines Amoklaufs überhaupt nähern? Eine Reporterin erzählt, wie unsicher sie war, eine Crêpestand-Besitzerin neben der Schule zu interviewen.» Bis ich merkte: Die wollte sogar reden!«

»Das Opfer sollte immer die Kontrolle über die Interviewsituation haben«, sagt Rojas. Bei längeren Workshops lässt sie deshalb Schauspieler Betroffene mimen und die Reporter selbst erleben, wie weit sie gehen können - und welche Fragen tabu sind. So sei das Interview, das Marietta Slomka 2005 im heute-journal mit der befreiten Geisel Susanne Osthoff führte, exemplarisch dafür, wie Gespräche mit Traumatisierten eben nicht ablaufen sollten: »Osthoff stand noch unter Schock. In diesem Zustand vor eine Kamera gesetzt und aus dem Off gefragt zu werden, wie man sich fühlt, stresst enorm. Das würde man heute wahrscheinlich nicht mehr senden.«

»Klasse war das!«, hörte Uschi Strautmann nach dem Kurs von vielen Teilnehmer. Endlich habe man das Erlebte diskutieren, Strategien entwickeln können. Strautmann hat nun angeregt, das Training in das SWR-Volontariat zu integrieren. Damit wäre der Sender in Deutschland Pionier. WDR und Medienakademie bieten ihre Kurse bislang nur als Fortbildung an, Journalistenschulen behandeln das Thema eher als Nebenaspekt - wenn überhaupt. »Wenn sich nachhaltig etwas ändern soll«, glaubt Fee Rojas deshalb, »muss das auch von den Chefs ausgehen. Deren Ahnungslosigkeit über guten Trauma-Journalismus ist das Hauptproblem.« So bleibt der Druck, möglichst schnell krasses Material zu liefern, groß.

Dabei könnte Behutsamkeit manche Tür öffnen, die sonst verschlossen bliebe: Zwei Tage nach dem Amoklauf klingelt es wieder bei Gisela Mayer. Diesmal stellt die Besucherin sich vor, erklärt, warum sie gern mit der Familie sprechen wolle. »Sie sagte, sie wolle den Opfern ein Gesicht geben«, erinnert sich Mayer. »Das hat uns gefallen. Auch, dass sie nicht drängte.« Am Wochenende trifft man sich zum Interview. Es ist das erste große Opferporträt, das nach dem Amoklauf erscheint. Gisela Mayer sagt, sie habe es nie bereut.

 (Quelle: Die ZEIT, vom 5.11.2009, Nr. 46, mit freundlicher Genehmigung)

Kristina Maroldt, Jahrgang 1976, ist Journalistin und Autorin und arbeitet für diverse Magazine und Tageszeitungen, u.a. für die BRIGITTE, FAS, STERN, ZEIT etc. 2004 Journalistenpreis „Ehrenamtliches Engagement“ der Robert Bosch Stiftung. Ab Dezember 2009 ist sie als freie Korrespondentin im Südlichen Afrika unterwegs (Sitz: Kapstadt). Mehr.