Tipps für Berichte über sexualisierte Gewalt

Berichte über sexualisierte Gewalt erfordern besondere Sensibilität ethische Maßstäbe und spezifische Interviewtechniken. Reporter/innen sollten juristische Aspekte beachten und grundsätzliches über Trauma-Folgeerscheinungen  wissen. 

Sexualisierte Gewalt richtet sich physisch und/oder psychisch gegen Frauen, Kinder und Männer jeglichen Alters. Vergewaltigung gilt in der Forschung als eine der schwerwiegendsten traumatischen Erfahrungen überhaupt. Über so ein Ereignis zu sprechen, ist üblicherweise mit einem hohen Stresslevel verbunden. Während des Gespräches darüber kann es vorkommen, dass der/die Betroffene die gleichen intensiven Gefühle erlebt, wie in der damaligen Situation (Flashback). Journalist/innen sollten deshalb besonders darauf achten, diesen Stress nicht unnötig zu verstärken. Außerdem sollten sie bedenken, dass sexualisierte Gewalt meist nicht nur die Person selbst betrifft, sondern auch das Umfeld wie Familienmitglieder, Freunde, Partner, Kinder oder andere, die Zeugen dieses Verbrechens wurden. Wird/wurde sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe oder Teil kämpferischer Handlungen eingesetzt, kann dies eine ganze Gesellschaft oder z.B. ein Dorf verändern und die Menschen dort traumatisiert haben.

Vorbereitung und Kontaktaufnahme

Informieren Sie sich sorgfältig über wahrscheinliche Folgen und Ursachen sexualisierter Gewalt. Recherchieren Sie auch lokale Umstände und Bedingungen. Auch wenn Sie sich dieses Wissen über die Situation angeeignet haben, sollten Sie es vor dem Interview beiseite schieben. Es ist unwichtig, wie viel Sie über die Fakten und Ereignisse wissen, Sie können niemals vorhersagen, wie Ihr Interviewpartner diese Dinge individuell erlebt hat. Lassen Sie sich auf das Gespräch ein.

Achten Sie auf Ihre Sprache! Vergewaltigung oder Missbrauch sind kein „Sex“. Ein sexueller Übergriff ist keine „Affäre“ oder kein „Vorfall“. Menschen-, Frauen- und Kinderhandel sind keine Prostitution. Manche Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, möchten nicht als „Opfer“ bezeichnet werden, andere legen Wert darauf, endlich als „Opfer“ anerkannt zu werden, weil sie damit ihre oft jahrelangen Schuldgefühle verringern können. Im englischen Sprachraum wird das Wort „survivor“ („Überlebende“) häufig favorisiert, in Deutschland ist die angemessene Sprachwahl permanent in Bewegung. Fragen Sie Ihr Gegenüber am besten selbst, welche Wortwahl er oder sie für sich für angemessen hält[1].

Respektieren Sie das Recht ihres Gegenübers, nein zu sagen! Jeder darf ein Interview, eine Frage, ein Foto oder eine Veröffentlichung verweigern. Niemand sollte gezwungen werden, über ein traumatisches Ereignis, wie eine Vergewaltigung zu sprechen.

  • Wenn es Expert/innen z.B. von einer Beratungsstelle oder eine/n Anwält/in gibt, der oder die den Fall kennt, fragen Sie dort nach, ob es Bedenken dagegen gibt, wenn sich der/die Betroffene zu dem Ereignis äußert. Ein Interview kann große Auswirkungen auf ein späteres Gerichtsverfahren haben!
  • Auch wenn Sie als Mann ein sensibler Fragesteller  sein können,  wird es für die überwiegende Anzahl von Frauen wahrscheinlich leichter sein, sich von einer Frau interviewen zu lassen. Ist das nicht möglich, könnten Sie auch überlegen, zumindest eine Kollegin mit zu dem Interview zu nehmen, um eine Kontaktmöglichkeit zu schaffen.
  • Seien Sie fair und realistisch. Nötigen Sie Ihr Gegenüber nicht, schmeicheln Sie ihm oder ihr nicht, um sie zu einem Interview zu überreden und suggerieren Sie nicht, dass Sie mit Ihrem Interview dazu beitragen werden, dass die Betroffenen Hilfe erhalten oder die Täter ihre gerechte Strafe bekommen. Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können!

Fragen Sie sich und andere, welche Gefahr ein Interview für ein Vergewaltigungs- oder Missbrauchsopfer bedeuten kann. In einigen Kulturgruppen reicht schon der Verdacht, vergewaltigt worden zu sein, aus, um erniedrigt, ausgegrenzt oder weiterer Gewalt ausgesetzt zu werden. Handeln Sie mit Bedacht und überlegen Sie genau, wie Sie Bedingungen, Raum und Zeit für Ihr Interview gestalten und schaffen können.

  • Stellen Sie sich ordentlich vor und geben Sie niemals vor, kein/e Journalist/in zu sein. Wenn Sie erläutern, welche Art von Bericht Sie gerade vorbereiten, wird dies wahrscheinlich das Vertrauen Ihrer Interviewpartnerin/ihres Interviewpartners erhöhen und zu einem deutlich besseren Ergebnis führen.

Während des Interviews

Verabreden Sie Regeln. Gewalt und Missbrauchssituationen nehmen Menschen die Kontrolle über sich und ihren Körper, deshalb ist es besonders wichtig, ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle während eines Interviews zurück zu geben. Beziehen Sie Ihr Gegenüber in Entscheidungen mit ein. Fragen Sie zum Beispiel, welche Zeit und welcher Ort für ihn oder sie am geeignetsten sind.

  • Wenn Sie mit Übersetzer/innen arbeiten, beziehen Sie diese in die Regeln mit ein. Radio- und Fernsehjournalist/innen sollten darauf achten, das Interview immer in der Muttersprache der betroffenen Menschen aufzuzeichnen und das Team auf ein Minimum zu reduzieren.
  • Informieren Sie Ihr Gegenüber darüber, wie viel Zeit oder Platz Sie in Ihrer Veröffentlichung für die Aussagen haben werden. Ohne Vorwarnung zusammengekürzt oder auf „die knackigsten Ausschnitte“ reduziert zu werden, kann Ihr Gegenüber sehr verletzen und das Gefühl auslösen, erneut benutzt worden zu sein.

Das Geheimnis eines guten Interviews ist aktives, teilnehmendes, nicht bewertendes Zuhören. Das hört sich leicht an, ist aber eine Fähigkeit, die meist Zeit und viel Übung braucht.

Unterschätzen Sie nicht, wie sehr Ihre eigenen Reaktionen auf ein traumatisches Detail den Verlauf des Interviews beeinflussen. Wenn Sie eine Schilderung belastend finden, nehmen Sie den Schrecken, Ekel oder jedes andere Gefühl, das Sie haben, wahr und versuchen Sie, sich schnell wieder auf das Interview zu konzentrieren. Meist ist das einfacher, wenn Sie sich auf Ihre Augen, auf die Körpersprache und Gesichtszüge Ihres Gegenübers konzentrieren, als nur auf die Inhalte des Gesagten. Die Zeit, Ihre eigenen Reaktionen auf das Interview zu verarbeiten, ist nach der Situation. Nehmen Sie sich diese Zeit!

Sexualisierte Gewalt ist verbunden mit vielen Schuldgefühlen, Peinlichkeit und Scham. Vermeiden Sie deshalb jeden Hinweis und jede sprachliche Wendung, die auf die Verantwortung Ihres Gegenübers hinweisen könnte. Und verwenden Sie nur sehr vorsichtig Fragen nach Gründen oder Ursachen (Warum-Fragen), denn diese werden überwiegend auch von Ermittlern gestellt.

Bereiten Sie sich darauf vor, dass die Schilderungen manchmal unlogisch oder lückenhaft sind. Überlebende von sexualisierter Gewalt steigen häufig während der Taten emotional aus der Situation aus, sie träumen sich weg (dissoziieren) oder schalten ihre Gefühle gewissermaßen ab. Die Erinnerungen sind dann zerstückelt, zeigen Lücken oder Erlebnisse werden komplett verdrängt oder vergessen. Unvollständige oder widersprüchliche Schilderungen sind häufig kein Beweis für Unglaubwürdigkeit, sondern ein Zeichen des inneren Kampfes während oder nach einem Erlebnis, das Geschehen zu überstehen und es sich im Nachhinein zu erklären.

Sagen Sie niemals „Ich weiß, wie Sie sich fühlen“ – denn das wissen Sie nicht! Stattdessen könnten Sie sagen: „Ich ahne, wie schwierig das für Sie ist. Danke, dass Sie mit mir trotzdem darüber sprechen!“

Beenden Sie das Interview sorgfältig. Benennen Sie die Aspekte, die Sie für Ihren Bericht verwenden werden und fragen Sie, ob Ihr Gegenüber etwas ergänzen möchte. Und das wichtigste: Holen Sie Ihr Gegenüber in das Hier und Jetzt des Interviews zurück, sprechen Sie über den Raum, das Wetter oder den weiteren Tagesverlauf. Sprechen Sie auf jeden Fall über positive Dinge und vermitteln Sie ein Gefühl von Sicherheit.

Bleiben Sie erreichbar, auch nachdem der Bericht erschienen ist. Wenn Sie ein Belegexemplar zugesagt haben, dann halten Sie  dieses Versprechen auch.

 Die Berichterstattung selbst

Noch einmal: Kontrollieren Sie Ihre Sprache. Sexualisierte Gewalt ist etwas sehr persönliches, intimes, und hat immer auch ein gesellschaftliches und politisches Umfeld.

  • Wenn Sie eine Tat beschreiben, finden Sie eine gute Balance für anschauliche Details. Zu viel kann Ihr Publikum überfordern und abschrecken, zu wenig kann Ihre/n Interviewpartner/in unglaubwürdig oder wenig berührend erscheinen lassen.
  • Während kämpferischer Auseinandersetzungen wird Vergewaltigung regelmäßig als Kriegswaffe eingesetzt und ist ein international geächtetes Kriegsverbrechen. Dies als eine unglückliche individuelle Begleiterscheinung eines Krieges erscheinen zu lassen, ist nicht akzeptabel.

Machen Sie sich im Vorfeld Gedanken über die Wirkung Ihrer Veröffentlichung. Journalist/innen tragen die Verantwortung dafür, dass ihre Berichterstattung oder Recherche keinen weiteren Schaden, weitere Gewalt oder gesellschaftliche Diskriminierung  für die Interviewten zur Folge hat.

  • Erwägen Sie, Ihren Bericht oder Teile Ihres Berichtes über eine sexualisierte Gewaltsituation vor der Veröffentlichung Ihrem Gegenüber zu zeigen. Das kann Ihnen zeigen, welche Wirkung der Bericht hat und fatale Fehler vermeiden. Wenn die Betroffenen  wahrnehmen, dass Sie sich an die Absprachen halten und welche Richtung Sie mit Ihrem Bericht verfolgen, kann dies zu einer wertvollen weiteren Zusammenarbeit führen.
  • Erzählen Sie die ganze Geschichte! Manchmal konzentrieren sich die Medien zu stark auf bestimmte Details oder nur auf die tragischen Momente eines Ereignisses. Aber Reporter/innen tun gut daran, zu verstehen und in ihre Berichte einfließen zu lassen, dass sexualisierte Gewalt ein Ausdruck eines lange schwelenden gesellschaftlichen Problems, sozialen, militärischen oder lokalen Konfliktes sein kann. Es kann sehr heilend für eine ganze Gesellschaft oder Gruppe sein, zu lesen, wie andere gelernt haben, langfristig mit traumatischen Erlebnissen zu leben.
  • Wenn möglich, stellen Sie Quellen und weiterführende Informationen und Hilfestellungen zur Verfügung.

Anonymisierung

Überprüfen Sie vor der Abgabe noch einmal sorgfältig, ob Sie Ihre Gesprächspartner/innen in irgendeiner Weise durch den Bericht gefährden. Gibt es Hinweise, aufgrund derer Ihr Gegenüber zu identifizieren ist (insbesondere durch Familienmitglieder und nahe Freunde?). Alter, Beruf und Ortsangabe können ausreichen, um ein Opfer recht eindeutig zu identifizieren. Körpermerkmale an Händen, eine typische Kopfbewegung im Schatten, Stimme, Tonfall, Wortwahl oder Kleidungsdetails gefährden die Anonymisierung im Film. Deutlich sicherer als verfremdete Stimmen oder „Schattenbilder“ sind nachgesprochene Texte und anonymisierte Bilder, in denen z.B. die Füße von jemand anderem zu sehen sind, wie sie über eine Brücke gehen und am Geländer stehen bleiben. Die Interviewaufzeichnung der Original-Quelle brauchen Sie natürlich für Ihre Recherche-Unterlagen – auf dem Sender aber können Sie ohne weiteres fremde Stimmen und Bilder verwenden (einblenden: „Stimme nachgesprochen“).

Dieser Text stammt aus dem Englischen bzw. Amerikanischen, wurde aber auf deutsche Verhältnisse übertragen und für den deutschen Sprachraum ergänzt. Das Original auf Englisch sowie weitere Informationen finden Sie unter http://dartcenter.org/content/reporting-on-sexual-violence#.UoOJ9-IXUuc  


[1] Wir sprechen in diesem Text z.B. immer von „sexualisierter Gewalt“ und nicht von „sexueller Gewalt“, weil wir davon ausgehen, dass nicht die sexuelle Handlung, sondern die Gewaltausübung aus Ausdruck von Macht und Erniedrigung im Mittelpunkt der Taten steht.