Tipps für Interviews mit Kindern

Kinder sind besonders verletzlich. Wenn sie ein traumatisches Ereignis  erlebt haben wie Terror, Gewalt, Naturkatastrophen, Verbrechen, Trauer, Verlust oder eine schwere Krankheit, dann sind sie auf ein  sensibles Urteils- und Einfühlungsvermögen von Erwachsenen angewiesen, um nicht weiteren Schaden zu nehmen. Reporter/innen, Redaktionsleitungen, Fotograf/innen und andere Medienschaffende sollten sich dieser Verantwortung bewusst sein. Nutzen Sie Kinder für ihre Berichterstattung nicht aus und fügen Sie ihnen durch unsensible Arbeit keinen weiteren Schaden zu.

Hier sind einige Praxishinweise für die Berichterstattung:

Grundsätzliche  Interviewregeln

Holen Sie sich immer die ausdrückliche Zustimmung mindestens eines Elternteils oder einer erwachsenen Vertrauensperson (andere Verwandte, Jugendamt, Helfer/innen, je nach Situation) des Kindes ein, bevor sie ein Interview führen oder das Kind fotografieren. Das bedeutet, dass Sie dem/der Erwachsenen erklären, warum und worüber Sie mit dem Kind sprechen wollen und in welcher Form und in welchem Zusammenhang das Interview veröffentlicht/verwendet werden soll.

Verabreden Sie gemeinsam Regeln für das Interview. Machen Sie deutlich, was veröffentlicht werden könnte und was Sie nicht veröffentlichen werden[1].

Achten Sie darauf, dass die erwachsene Vertrauensperson beim Interview anwesend ist. Falls nicht, legen Sie die Passagen, die Sie veröffentlichen wollen, auf jeden Fall noch einmal zur Abnahme vor, bevor Sie diese drucken oder senden.

Achten Sie darauf, dass den Beteiligten immer klar ist, dass Sie ein/e Journalist/in sind und Teile dieses Gespräches veröffentlichen werden. Passen Sie auf, dass Sie nicht als Freundin oder Helfer/in wahrgenommen werden, sondern Ihre Rolle immer klar ist.

Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können.

Suchen Sie sich einen möglichst ruhigen Platz für Ihr Interview und sorgen Sie dafür, dass es dem Kind dort gut geht. Nehmen Sie das Kind ernst. Bevormunden Sie es nicht, überreden Sie es zu nichts.

Wenn Sie das Interview beendet haben, besprechen Sie kurz alle Passagen, die Sie verwenden wollen, mit dem/der erwachsenen Begleitperson.

Interviews am Ort eines Verbrechens oder einer Katastrophe

Vermeiden Sie es, Kinder am Ort eines Verbrechens oder einer Katastrophe zu interviewen. Sie stehen sehr wahrscheinlich unter Schock und benötigen jetzt  Trost, Sicherheit und Hilfe, und keine Fragen.

Wenn Sie sich entscheiden, ein Kind doch vor Ort zu interviewen, versuchen Sie zumindest, dies nicht vor der Kulisse von Chaos, Rettungspersonal, Sirenen oder anderen Opfern zu tun. Suchen Sie einen geschützten Ort auf und sagen Sie Personen, die sich um das Kind kümmern, Bescheid, wo Sie sind. Achten Sie auf Transparenz!

Veröffentlichen Sie keine Fotos oder Filmaufnahmen von Kindern ohne vorherige Zustimmung von verantwortlichen Erwachsenen. Ein Foto von einem verletzten Kind ist aufwühlend und kann außerdem vom Opfer als sehr entwürdigend empfunden werden.

Stellen Sie offene Fragen: „Was ist dann passiert?“ Vermeiden Sie Suggestivfragen oder Fragen, auf die die Antwort eigentlich überflüssig ist, wie z.B. „Hattest Du Angst?“.

Traumatisierte Menschen treffen oft schlechte, unüberlegte Entscheidungen. Bereiten Sie sich darauf vor, dass Erwachsene und Kinder vielleicht auch nach dem Interview noch ihre Zustimmung zurück ziehen oder etwas verändern wollen. Sollte das passieren, verwenden Sie das Material nicht und halten Sie sich an diese Wünsche! Insbesondere bei Interviews mit Kindern sollte man eine Kontaktadresse hinterlassen, wie man auch nach dem Interview für weitere Absprachen zu erreichen ist, denn häufig sind wichtige Erwachsene, die zustimmen müssten, nicht gleichzeitig vor Ort und es entsteht später noch Gesprächsbedarf.

Geben Sie dem Kind so viel Mitspracherecht wie möglich

Machen Sie deutlich, dass das Kind nicht auf jede Frage antworten muss, dass es das Interview abbrechen oder hinterher noch entscheiden darf, dass bestimmte Antworten nicht zitiert werden sollen und dass Sie sich daran halten werden.

Halten Sie Stift und Zettel oder Aufnahmegerät/Kamera stets so sichtbar, dass immer deutlich ist, in welcher Form das Interview aufgezeichnet wird. Erklären und zeigen Sie dem Kind die technischen Geräte, wenn es sich dafür interessiert, das bringt Vertrauen und Sicherheit in die Situation. Lassen Sie es zum Beispiel einmal selbst durch die Kamera schauen oder sein eigenes Bild sehen.

Seien Sie sich stets darüber im Klaren, dass Kinder manchmal versuchen, das zu sagen, was ihrer Meinung nach von ihnen erwartet wird.

Interviews mit Kindern über länger zurückliegende Traumata

Recherchieren Sie im Vorfeld so viel Sie können über die Situation, um die es geht. Befragen Sie Eltern, Beratungsstellen, Lehrer/innen, Mediziner/innen, ziehen Sie Aufzeichnungen und Unterlagen wie Gerichtsdokumente u.a. zu Rate, um sich möglichst gut über die Details zu informieren. Dies hat zwei Gründe: Zum einen muss das Kind Ihnen dann nicht viele Teile seines Traumas selbst erklären und Sie halten die Belastung gering. Zweitens sind Kinder schlechte Zeugen für Fragen nach Fakten, weil ihre Wahrnehmung sich häufig sehr von der Wahrnehmung Erwachsener unterscheidet.

Erkundigen Sie sich bei Eltern oder Vertrauenspersonen des Kindes, ob es bestimmte Themen oder Aspekte gibt, die das Kind besonders belasten und versuchen Sie, diese besonders sensibel anzusprechen oder möglichst sogar auszusparen.

Bevormunden Sie Kinder niemals, egal, wie jung diese  sind. Respektieren Sie ihre Gefühle und ihre Art, wie sie Dinge erinnern oder erzählen wollen. Seien Sie vorbereitet und nicht überrascht: Es kann sein, dass ein Kind nicht so trauert, wie Sie es erwarten.

Wiederholen Sie dem Kind gegenüber, was Sie verstanden haben und geben Sie ihm die Chance, Dinge richtig zu stellen.

Bilden Sie sich fort. Sprechen Sie mit Expert/innen, besuchen Sie Seminare, lesen Sie Hintergründe über traumatisierte Kinder auf seriösen Webseiten. Überlegen Sie, welche Fragen für welche Altersgruppe von Kindern gut geeignet sind – zum Beispiel wird ein Kind im Kindergartenalter Ihnen kaum bestimmte Ereignisse chronologisch und detailliert schildern können, aber es wird wahrscheinlich sehr gut beschreiben, wie und was es gespielt hat, als der Wirbelsturm kam.

Kinder unter 13 Jahren sind häufig keine verlässlichen Zeugen, was Fakten angeht. Ziehen Sie ergänzende Unterlagen und Quellen zu Rate und prüfen Sie die Aussagen, wie immer Sie können.

Stellen Sie niemals Fragen, die Schuldgefühle wecken können, wie z.B. „Hattest Du keinen Sicherheitsgurt um?“ oder „Bist Du oft abends alleine draußen?“

Über eine traumatische Situation zu sprechen, kann in Ihrem Gegenüber sehr intensive Gefühle verursachen, auch noch Jahre danach. Bereiten Sie sich auf extreme emotionale Äußerungen vor und sorgen Sie ggf. dafür, dass Sie Menschen in der Nähe haben, die das auffangen können, z.B. Familienmitglieder, ältere Geschwister, Seelsorger oder Betreuungspersonen.

Passen Sie die Länge des Interviews an das Alter der Kinder an: Bewährt haben sich

  • ca. 30 min. für Kinder unter 9 Jahren,
  • 45 min. für Teenager zwischen 10 und 14 und
  • maximal eine Stunde für Jugendliche.

Machen Sie eine Pause, wenn Sie bemerken, dass das Kind abgelenkt ist oder gelangweilt wirkt.  Das kann eine Reaktion darauf sein, dass es emotional überfordert ist.

Veröffentlichen Sie keine Informationen, die im Nachhinein peinlich für das Kind sein könnten, auch wenn es der Veröffentlichung zugestimmt hat. Kinder erzählen in einer Situation oft vieles, was sie hinterher bereuen, und Sie als Reporter/in brauchen längst nicht jedes Detail für Ihren Bericht. Zum Beispiel sind Bettnässen oder Drogenkonsum häufig Begleiterscheinungen einer Geschichte, die auch ohne diese Details berührend genug ist. Wenn Sie solche Dinge veröffentlichen, dann nur, wenn Sie ausdrücklich darüber berichten wollen.

Besprechen Sie mit erwachsenen Vertrauenspersonen nach Ihrem Interview, welche Zitate Sie wie verwenden wollen, und wann, wo und wie oft Ihr Bericht veröffentlicht wird. Schicken Sie auf jeden Fall im Nachhinein Belegexemplare zu!

 

Diese Checkliste und weitere Informationen finden Sie auf Englisch unter http://dartcenter.org/content/interviewing-children-guide-for-journalists

 


[1] Vielen Opfern ist es sehr wichtig, dass bestimmte Aussagen veröffentlicht werden, die sie gesagt haben, und sie fühlen sich verraten, wenn ausgerechnet dieser Satz dann nicht auftaucht. Insofern sollte man bei Dingen, die mit großer Intensität erzählt werden, von denen man aber bereits im Interview weiß, dass das eigentlich viel zu weit geht, deutlich machen, dass man diese Passage nicht verwenden wird oder kann und warum.