"Unsere Kinder wurden uns zweimal entrissen"

Gisela Mayer ist die Mutter einer der Ermordeten von Winnenden. Die Ethiklehrerin trauert um ihre 24-jährige Tochter Nina, die als Referendarin an der Albertville-Realschule arbeitete. Mit dem journalist sprach sie eineinhalb Jahre später über ihre Erfahrungen mit Journalisten und deren Berichterstattung aus Winnenden.

Journalist: Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an die Medienberichterstattung während des Amoklaufs zurückdenken?

Gisela Mayer: Zunächst denke ich an Katastrophe, an Chaos. Alles war völlig ungeordnet. Es gab Übergriffe jeglicher Art und keine Rücksichtnahme darauf, dass hier junge Menschen etwas erlebt haben, was sie niemals hätten erleben dürfen. Dann denke ich an Hilflosigkeit. Auch die Journalisten waren überfordert – das weiß ich heute.

Ihre Tochter war eines der Opfer des Amoklaufs. Wie haben Sie als Angehörige die Berichterstattung wahrgenommen?

In der ersten Zeit habe ich Medienberichte nur sehr eingeschränkt verfolgt. Man steht sowieso unter Schock. Wir haben überhaupt nicht damit gerechnet, in welchem Maße sich das Medieninteresse entwickeln wird. Man darf nicht vergessen, dass wir ganz normale Bürger waren. Unsere Kinder waren normale Schüler, oder eben Lehrer, die sich niemals Gedanken darum gemacht haben, dass hier irgendein Medieninteresse bestehen könnte. Und dann waren unsere Kinder von einer Sekunde auf die andere öffentlicher Besitz. So sind sie uns zweimal entrissen worden. Einmal aus dem Leben, und das zweite Mal wurden sie uns genommen und der Öffentlichkeit präsentiert.

Wie empfanden Sie das Verhalten der Journalisten?

Ganz unterschiedlich, ich habe alles erlebt: völlige Rücksichtslosigkeit, Ignoranz, auch Journalisten, die überhaupt nicht verstanden haben, was sie eigentlich tun und worum es geht. Es gab aber auch solche, die mit der Situation sehr sensibel umgegangen sind. Am besten war aus heutiger Sicht eine Haltung, die einfach ehrlich war. Einige Journalisten haben gesagt: „Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll, ich stehe jetzt genauso hilflos da wie Sie.“ Auf dieser Basis sind die besten Gespräche entstanden. Die schlimmsten fingen mit dem Satz an: „Wie fühlen Sie sich?“

Welche schlechten Erfahrungen haben Sie gemacht?

Schon 24 Stunden nach der Tat standen Journalisten vor der Tür, die Interviews haben wollten. Unsere Tochter war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beerdigt worden – wir hatten sie nach ihrer Ermordung noch nicht einmal sehen dürfen, weil sie in der Gerichtsmedizin war. Trotzdem sollte ich bereits Interviews geben. Das war der Gipfel der Rücksichtslosigkeit. Ich weiß gar nicht, wie man überhaupt so schnell Namen und Adressen herausfinden kann, aber es geht anscheinend.

Welche Unterschiede konnten Sie im Verhalten der Journalisten verschiedener Medien feststellen?

Die Boulevardpresse ist nicht unerträglicher als der so genannte seriöse Journalismus; es ist definitiv von der Person abhängig. Das erste freiwillige Interview gab ich der Zeitschrift Bunte. In der Presse war zuvor vieles falsch dargestellt worden. Es gab Veröffentlichungen, ohne dass uns jemand gefragt hätte. Es ist ungeheuer verletzend, wenn über das eigene Kind Falsches in der Presse steht. Das Interview in der Bunten war für mich eine Art Gegendarstellung. Die Chefredakteurin hatte Interesse daran, den Opfern ein Gesicht zu geben und darzustellen, welche Menschen hier umgekommen sind. Die Tatsache, dass sie uns ihre Motivation mitteilte, war die Vertrauensbasis. Das war der Grund für das erste vernünftige Interview, nachdem unsere Tochter ermordet wurde. Alles, was vorher war, war nur grauenvoll.

Was war Ihre schlimmste Erfahrung mit Medien?

Der erste Schock war am Tag nach dem Amoklauf in der Bild-Zeitung. Wir wurden von Bekannten angerufen, die uns darauf hinwiesen, dass Bild etwas über unsere Tochter berichtet habe. Wir besorgten uns das Blatt und sahen das halbseitige Foto unserer Tochter, das sie bei einem Sportfest zeigt. In der Bildunterschrift wurde sie fälschlicher Weise als Schülerin betitelt, obwohl sie Referendarin war. Aber noch schlimmer war, dass dieses Foto nie von uns autorisiert wurde. Es war ein persönliches Foto, das meine jüngere Tochter auf ihrem privaten Laptop archiviert hatte. Und dieses Bild war plötzlich in der Presse – wie auch immer das technisch möglich war. Der Laptop war von diesem Zeitpunkt an übrigens kaputt. Das war ein unglaublicher Übergriff auch in die Privatsphäre meiner jüngeren Tochter. Das war die übelste Geschichte, die ich erlebt habe.

Haben Sie mitbekommen, dass einige Journalisten für Informationen Geld zahlen wollten?

Den Anwohnern wurde für einen Platz auf dem Balkon in Friedhofsnähe 1.000 Euro geboten. Natürlich war der Friedhof abgeriegelt, doch vom Balkon aus hätte man die Beerdigung filmen können. Auch Schülern wurde Geld geboten, für Auskünfte jeglicher Art, auch der Sorte: Wie hast du es erlebt? Wie fandest du den Täter? Hast du ihm ins Gesicht gesehen? Das sind junge Menschen, die gerade mit einer furchtbaren Gewalttat konfrontiert wurden, und dann fragt man sie solche Sachen.

Gab es auch positive Erfahrungen mit der Presse?


Am Anfang war es wirklich nur Sensationsberichterstattung; mit Ausnahme der örtlichen Zeitung hier. Der Chefredakteur hat dem von Anfang an einen Riegel vorgeschoben. Er sagte, er wolle keine derartige Berichterstattung, und sein Haus hat sich auch konsequent daran gehalten. Sonst waren die ersten Wochen von chaotischen Zuständen geprägt. Die positiven Erlebnisse kamen sehr viel später in persönlichen Gesprächen mit einzelnen Journalisten. Menschen, die nachgedacht und dann gesagt haben, dass sie unsicher sind und nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Und das ist ja auch das einzig Richtige.

Im November 2009 gründeten Sie das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden. Stiftung gegen Gewalt an Schulen“, dessen Pressesprecherin Sie bis zu diesem Sommer waren. Halfen Ihnen die Medien, Ihre Forderungen zu unterstützen, indem sie öffentlich Druck auf Politiker ausübten?

Etwa ein dreiviertel Jahr später haben wir ganz bewusst etwas eingefordert und gesagt: „Ihr seid uns so auf die Pelle gerückt, nicht immer rücksichtsvoll, also setzt euch für diese Sache jetzt ein.“ Noch etwas, was ich Journalisten immer sage: Ein Amoktäter will in die Presse. Man hat ihm in diesem Fall den Gefallen getan. Es kamen seitenweise Berichte, jeder weiß, dass er Tischtennis gespielt hat. Ob eines der Opfer Tischtennis gespielt hat, weiß niemand. Die Medien spielen eine aktive Rolle bei Amokläufen, der Täter macht sie zu Mittätern. Deswegen haben sie eine erhöhte Verantwortung. Viele waren auch sehr kooperativ und halfen uns, wenn wir sagten, dass wir die Öffentlichkeit brauchen.

War es rückblickend für Sie gerechtfertigt, dass die Öffentlichkeit so direkt und ausführlich informiert wurde?

Es ist das natürlichste menschliche Verhalten, dass man wissen will, was passiert ist. Doch in der Berichterstattung fehlte mir, dass es sich um eine wahnsinnig feige Tat handelte. Wehrlose Menschen mit einer Hochpräzisionswaffe von hinten zu erschießen – diese Heimtücke wurde zu wenig dargestellt. Der Täter hatte zwei bis drei Meter Abstand von seinen Zielen. Das ist keine Heldentat. Trotzdem muss die Öffentlichkeit natürlich informiert werden.

Was hat die Journalisten Ihrer Meinung nach angetrieben?


Einige haben mit später erzählt, dass sie von einer Welle mitgerissen wurden, weil alle darüber berichtet haben. Viele wollten gar nicht, doch dann kam der Druck der Redaktionen. Unter diesem Zwang passieren dann wohl auch solche Übergriffe. Die informative Berichterstattung kam erst später. Der Journalismus kam wieder zu Verstand.

Im März 2010 jährte sich der Amoklauf. Wie groß war das Medienaufgebot an diesem Tag?

Sogar stärker als am Tattag. Es war unglaublich, welches Medieninteresse hier noch einmal an Winnenden bestand. Der Vorteil war, dass man nach einem Jahr wusste, an wen man sich wenden konnte. Das war auch nötig, wir haben am Jahrestag wirklich Sperrzonen gebraucht, um alles in vernünftigen Grenzen zu halten. Das ist Gott sei Dank gelungen, auch durch den Besuch des Bundespräsidenten. Wie ist Ihr heutiges Verhältnis zu den Medien? Es ist wesentlich reflektierter und gezielter. Journalisten wollen nachbessern, sie wollen in Zukunft besser gerüstet sein, sie wollen nicht die gleichen Fehler machen.

Wie ist ihr heutiges Verhältnis zu den Medien?

Es ist wesentlich reflektierter und gezielter. Journalisten wollen nachbessern, sie wollen in Zukunft besser gerüstet sein, sie wollen nicht die gleichen Fehler machen.

 

 

Nicole Geelhaar und Monika Siebenbach studieren Technikjournalismus an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg


(Dieser Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Autoren und dem journalist)


Den Praxisleitfaden des Presserats zur Berichterstattung über Amokläufe finden Sie hier.

 

Lesen Sie dazu auch weitere Artikel und Materialien:

Hilflosigkeit, Trauer und Wut – wie kann man nach einem so tief greifenden Ereignis wie dem Amoklauf in Winnenden heute eine sensible Berichterstattung leisten? Der Waiblinger Zeitungsverlag hat nach Konsultationen mit dem Dart Center International einen berührenden Schwerpunktartikel veröffentlicht.

Der so genannte Amoklauf in Winnenden, bei dem 16 Menschen getötet wurden,  stellt Berichterstatter vor einer großen Herausforderung und auch Verantwortung. Tipps im Umgang mit Opfern und weitere hilfreiche Artikel zum Umgang in den Medien.